Sorge, dass du bald schon eine Ernte hast
Serie: Permakultur Prinzipien
Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dieses Prinzip wirklich verstanden habe. Am Anfang hat es mich irritiert: Ist das nicht wieder unser Leistungsgedanke, schon gleich eine Ernte zu erwarten? Aber dann habe ich begriffen, dass gerade meine Interpretation dieses Prinzips noch vom Leistungs-Denken gefangen war. Denn ich habe bei Ernte nur an das gedacht, was man auf den Markt bringen kann, den nach außen sichtbaren und verkäuflichen Ertrag. Doch darum geht es hier nicht.
Eine Ernte kann alles sein, was uns nährt, stärkt, mit Energie versorgt. Und Energie brauchen wir schließlich, damit wir an unserem Projekt arbeiten können. Gerade weil der von außen und für andere sichtbare Ertrag oft erst nach einer ganzen Weile kommt.
Damit wir unser Projekt mit vielen kleinen Ernte-Momenten stärken können, sind vier Haltungen wichtig:
Viele kleine Ernte-Momente möglich machen
Zwischen der ersten Idee und dem fertigen Produkt liegen oft Durststrecken und Zweifelphasen, Nebeltäler und Kraxelhänge. In diesen Phasen scheitert wohl so manches Projekt oder diejenigen, die es tragen schleppen sich müde vorwärts. Wie schön, wenn genau dann schon eine kleine Ernte möglich ist.
Solche Ernte-Momente können wir in unser Projekt einplanen. Zum Beispiel, indem wir eine erste Mini-Variante des geplanten Projektes machen. Und die unseren Unterstützer*innen vorstellen, sodass die uns zum Weitermachen ermutigen können. Es tut auch gut, schon mal was in Händen halten zu können und den Effekt unseres Projekts schon mal in Mini erleben zu können. Das füllt uns mit neuem Mut und unsere Vision kommt so schon mal ein bisschen zum Leben.
Auch Lernerfahrungen können eine Ernte sein. Die gehen aber in der Hektik des Alltags oft unter, gerade wenn das Projekt holprig geht. Dann hilft ein Ernte-Abend, an dem wir uns mit dem Team zusammensetzen. Auf großen Papierbögen schreiben wir alles auf, was wir seit dem Start des Projektes schon gemacht haben und was wir bisher gelernt haben. Diese Lernerfahrungen und Zwischenschritte feiern wir danach gemeinsam mit einem schönen Essen.
2. Achtsamkeit für Ernten entwickeln
Viele Ernte-Momente kommen ganz von selbst. Nur bemerken wir sie oft nicht. Weil unsere westliche Kultur so auf das Endprodukt und alles Verkäufliche fixiert ist, registrieren wir häufig nicht, dass es viel mehr und noch ganz anderes zu ernten gibt. Wir haben nicht gelernt, Ernten zu erkennen, die man nicht anfassen kann.
Und weil wir so produktiv wie möglich sein wollen, versuchen wir alles auch so schnell wie möglich zu machen. Wir hasten durch die Punkte unserer To-Do-Listen. Und übersehen, was wir bei der Arbeit am Projekt Neues erfahren. Wie viele Lernmomente es gäbe, wenn wir sie nur erkennen würden!
Stattdessen sehen wir Spannungen nur als Störfelder. Ungeplante Ereignisse als Zeit-Fresser. Und schöne Begegnungen mit anderen Menschen registrieren wir kaum. Wenn wir lernen, unerwartete Ernten zu erkennen und zu feiern, gibt uns das viel Energie.
3. Zeit zum Ernten einplanen
Lernprozesse geschehen nicht, ohne eine gewisse Achtsamkeit. “Sorge, dass du bald schon eine Ernte hast”, bedeutet für mich darum auch, meinen Blick für all diese ungeplanten Ernten zu schärfen. Und uns dafür auch Zeit zu nehmen.
Bei Open Space Veranstaltungen gibt es meist auch die Phase des “Harvesting” (Erntens): Hier kommen alle zusammen, um einander von dem zu berichten, was sie im Laufe des Events entdeckt haben.
Eine Regenerative Kultur-Aktivistin aus Belgien erzählte mir letztens, dass sie jetzt auch in jedes Meeting, das sie moderiert, eine kurze Harvesting Phase einbaut. In der auf das Meeting zurückgeblickt wird, was ging gut, was nicht. Haben wir angenehm zusammen gearbeitet? Gab es Spannungen? Wofür bin ich dankbar?
Mich überzeugt die Idee. Aber als ich sie in einem Meeting vorschlage, werden andere Teilnehmer:innen bleich. “ZEHN MINUTEN! Wo wir doch so schon so viel auf der Tagesordnung stehen haben. Das können wir nicht schaffen”.
Doch Zeit gehorcht sehr oft den Regeln der umgekehrten Mathematik: Desto mehr wir uns anstrengen und beeilen, desto weniger erreichen wir. Und je mehr Zeit wir uns geben für Reflexion, Begegnung und Austausch, desto größer ist die Ernte.
Die tägliche Ernte
Ich habe mir angewöhnt, solche Ernte-Momente auch in meinen Tag einzubauen. Manchmal abends vorm Einschlafen. Aber oft auch am Ende einer Arbeitsphase, eines Meetings oder bei meinem Mittagsspaziergang. An manchen Tagen falle ich in den alten Modus zurück und “vergesse” es. Dann redet mein Leistungs-Ich mir ein, ich hätte heute keine Zeit dafür. Der Preis ist hoch: An solchen Tagen bin ich deutlich weniger optimistisch und habe weniger Energie.
Eigentlich ist das logisch, denn Lernprozesse und Achtsamkeit sind zwei unserer größten Energiequellen. Doch da sie sich nicht bemessen, nicht planen und nicht verkaufen lassen, kann das auf Leistung fixierte Denken sie nicht wahrnehmen. Aber wir können unser Denken ändern und dies ist ein wunderbar kraftgebender Hebel um dabei anzusetzen. Denn wenn wir erfahren, was wir alles ernten können, ganz ungeplant und fast nebenbei, wächst unser Vertrauen in den Wandel. Und in die Fülle. Wie ein Spaziergang durch die Natur uns mit Beeren und Blütenduft überrascht, so überrascht uns jedes Meeting, jedes Projekt mit wunderbaren Ernte-Geschenken. Die können wir feiern und uns an ihnen freuen.
Und draußen im Garten?
Da blüht gerade das Scharbockskraut. Das uns im frühsten Frühling schon mit vielen kleinen Ernten voller Vitamin C versorgt. Mehr darüber kannst du hier lesen.